Ich will bis zum Ende meines Lebens nichts anderes mehr machen
Im Café hinter dem historischen Rathaus in Münster bin ich mit einer Frau verabredet, die eine wahre Odyssee in unterschiedlichen Berufen hinter sich hat. Heute hat sie sich endgültig für die Pflege entschieden.
Annika Diederichs ist eine Frau der Tat, den Eindruck habe schon bei der Begrüßung. Obwohl wir uns nur einmal kurz begegnet sind, erkennt sie mich von weitem und spricht mich sogleich freundlich an. Sie ist in Münster-Mauritz groß geworden. Bei einem Ausflug nach Nottuln trifft sie auf dem Martinimarkt den Mann, der dafür gesorgt hat, dass sie jetzt ihren Lebensmittelpunkt in den schönen Baumbergen hat. Das Drängen, der Wunsch ihrer Mutter „etwas Richtiges“ zu lernen, war so groß, dass sie hintereinander bei drei gesetzlichen Krankenkassen und einer privaten Krankenkasse des Sparkassenverbundes erfolgreich arbeitete, bevor sie Personalvermittlerin und Geschäftsstellenleiterin in der Zeitarbeit wurde. Anschließen arbeitete sie bei einer Ingenieursgesellschaft für Elektrotechnik als Qualitätsmanagerin und studierte noch BWL, als es zum Burnout kam.
Obwohl sie immer erfolgreich war, fühlte Annika Diederichs sich nie ganz glücklich mit dem, was sie tat. Vor allem spürte sie tiefe Unzufriedenheit über die Art und Weise, wie in der Zeitarbeit mit Menschen umgegangen wird. Das alles ist ihrer besten Freundin während der ganzen Zeit nicht entgangen. Diese arbeitet als Intensiv-Krankenschwester in der Uniklinik Münster und riet ihr nachdrücklich, sich für einen Beruf zu entscheiden, der wirklich ihrer ist und in dem sie glücklich werden kann. Nach dem schlimmen Burnout und der anschließenden Rehabilitation handelte die Freundin. Eine Kollegin im Nottulner Altenheim war ausgefallen und Anika durfte mit Genehmigung der Leitung bei der Pflege hospitieren und assistieren. Sie spürte sofort, dass ihre Empathie, die sie den Bewohner*innen entgegenbrachte, mit Worten und Gesten voller Dankbarkeit erwidert wurde. Frau Diederichs musste neben ihrem Burnout noch den Verlust ihrer Eltern und des Onkels verkraften. Nach dem Tod der Mutter gab sich der Vater auf. Die sehr gute palliative Versorgung des Onkels im Hospiz beeindruckte sie sehr. Bald darauf begann sie die Pflege im Nottulner Altenheim dauerhaft zu unterstützen.
Ihr Vater, der zu Hause vom Palliativnetz betreut wurde, hatte vor seinem Tod noch einen letzten Wunsch. Er wollte unbedingt noch einmal nach Berlin, ins KADEWE und im Berliner Casino noch einmal pokern. Alle waren skeptisch, aber Annika Diederichs begleitete ihren Vater ohne zu zögern nach Berlin. Im Koffer waren genügend Morphinspritzen und der Vater lebte noch einmal kurz auf und genoss den Ausflug. All dies verstärkte den Entschluss, eine Ausbildung zur Pflegefachfrau an der Johanniter-Akademie beginnen. „Fühlen Sie sich jetzt, nach einem halben Jahr, in Ihrem Entschluss bestätigt?“, will ich wissen. „Meine erste Klausur wurde mit einer 1,6 benotet,“ erwidert sie stolz. Sie führt weiter aus: „Hier gibt es fast nur empathische Menschen, die Schule macht Spaß, was man ebenfalls bei der Leiterin spürt. In meinen vielen Berufen war das so nie. Wertschätzung und Anerkennung sind hier zum Glück die Regel und nicht wie vorher die Ausnahme.“ „Das hört sich zwar überzeugend an, aber können Sie es vielleicht an einer Alltagserfahrung veranschaulichen?“ „Unter den 30 Bewohner*innen einer Station unseres Heimes in Nottuln gibt es eine demente ältere Dame, die oft griesgrämig ist und sogar hin und wieder absichtlich Kolleginnen mit ihrem Rollstuhl anfährt. Mir dagegen kniff sie neulich leicht in die Wange und sagte in einem liebevollen Ton: ,Schön, dass du da bist, Schätzchen.‘ Offensichtlich erinnere ich sie an einen Menschen, den sie sehr gern hatte.“ Annika Diederichs überlegt und berichtet mir dann von Herrn S., einem unter Parkinson leidenden Bewohner, der aber früher ein großer Tänzer war und bis heute begeisterter Abba-Fan ist. Sein Lieblingslied ist „Dancing Queen“. „Als ich das realisierte, hatte ich eine Idee. Normalerweise bringen wir ihn nach dem Essen mit mehreren Personen zu seinem Fernsehsessel. Herr S. ist mittlerweile sehr korpulent und kaum noch beweglich. ,Heute singen wir ,Dancing Queen‘ und tanzen gemeinsam in den Fernsehsessel‘, rufe ich ihm begeistert zu. Seine Augen beginnen ein wenig zu strahlen und Herr S. ist motiviert, das merke ich sofort. Wir singen ,Dancing Queen‘ so gut wir es können und erreichen mit dem Rollstuhl tänzerisch den Fernsehsessel. Bei der Drehung in den Sessel macht der alte Tänzer diesmal so gut mit, wie seine Kräfte es zulassen. Heute ist trotz seines Gewichts keine zweite Person notwendig.“
„Frau Diederichs, ich muss Ihnen gestehen, ich bin beeindruckt. Ihr Beispiel aus dem Pflegealltag zeigt mir: Solche Menschen braucht die Pflege, um die Klischees und Vorurteile gegenüber diesem Beruf abbauen zu können.“ Sie nickt zögernd: „Ich muss gestehen, dass ich auch immer dachte: fremden Menschen den Hintern abputzen, ein schlecht bezahlter Knochenjob. Heute bedaure ich so viele Ehrenrunden benötigt zu haben, um endlich zu erkennen, dass das nur einen Teil dieses Berufes abbilden kann, der doch so viel mehr zu bieten hat.“
Text: Norbert Nientiedt
Fotos: Uwe Jesiorkowski
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